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Berliner Soloselbständige in Zahlen

Zur „Hauptstadt“ der Syphilis und der Wildschweine gekürt zu werden, muss man erstmal schaffen. Dit is Berlin, würde die dazugehörige Schnauze wohl sagen. Was durch solche schmissigen Titel allerdings unter den Tisch zu fallen droht, sind alltägliche soziale Phänomene in der Metropole, die das Leben Hunderttausender bestimmen und deshalb mehr Aufmerksamkeit verdient hätten. Wer weiß schon, dass Berlin auch die Hauptstadt der Soloselbstständigen ist? 2019 machten sie, das lässt sich dank der Zahlen des zuständigen Amts für Statistik errechnen, etwas mehr als 10% der Erwerbsbevölkerung aus – ein Spitzenwert im deutschlandweiten Vergleich. Wo, wenn nicht hier, wäre der richtige Ort für ein Projekt wie „schreiben & leben“, das sich in erster Linie an Freiberufler*innen richtet? Allein: Wie hoch ist in der Kapitale überhaupt der Anteil derer, die im weitesten Sinne mit Literatur zu tun haben?

Diese Frage treibt nicht nur uns im Projekt um, sondern auch die Politik, Kulturverbände und Interessensvertretungen der Berliner Literaturszene. Hätte man mehr Informationen über die Größe, die wirtschaftliche Lage und das Entwicklungspotential unserer Zielgruppe, ließen sich Beratungs- und Förderangebote noch viel besser zuschneiden. Ein großes Hindernis bildet dabei die „schwer zugängliche statistische Erfassung“, wie eine unlängst veröffentlichte Studie des Berliner Senats zur Freiberuflichkeit feststellen musste. Genauso wie die Orthographie kennt nämlich auch die Statistik mehrere Erscheinungsformen von Soloselbstständigen. Es kursieren unterschiedliche, mitunter sogar widersprüchliche Zahlen. Nicht zuletzt auf eigene Rechnung tätige Literaturschaffende leben, statistisch gesehen, im mikroskopischen Bereich. Um herauszufinden, wie sich die Geschlechterverteilung, die Altersstruktur und die Einkommen gestalten, bräuchte es feinfühligere Analysemethoden.

Die Devise kann daher vorerst nur lauten: durch Puzzlearbeit das Phänomen so eng wie möglich einzugrenzen. Es gibt drei offizielle Zahlen, die in diesem Zusammenhang erhellend sind. Der Mikrozensus kommt in seinen Hochrechnungen für 2019 erstens auf ca. 14.500 „Solo-Selbständige Autoren/Schriftsteller, Übersetzer/Dolmetscher, Lektoren sowie Beschäftigte im Veranstaltungsservice und -management“. Wie immer sollte man jedoch das Kleingedruckte lesen: Wegen „sehr geringen Fallzahlen“ wird vor „einer relativ hohen statistischen Unsicherheit“ gewarnt. Aus diesem Grund lassen sich auch der Veranstaltungsservice bzw. das Veranstaltungsmanagement nicht herausfiltern, obwohl sie das Ergebnis – aus der Perspektive von „schreiben & leben“ – verzerren.

Die zweite Zahl stammt vom hiesigen Finanzamt. 6.440 soloselbstständige „Schriftsteller*innen“ waren ihm 2018 in Berlin bekannt. Diese Zahl gewinnt an Aussagekraft, wenn man sie drittens mit den Daten der Künstlersozialkasse aus demselben Zeitraum vergleicht. Die Auswertung der KSK fällt sehr detailliert aus. Sie unterscheidet nicht nur weiterhin zwischen einem West- und Ostteil der Stadt, sondern bei Autor*innen dankenswerter Weise auch nach Sparten, also Belletristik, Sachliteratur sowie Bühne, Film, Funk und Fernsehen – alles in allem 2.892 Personen. Rechnet man die Sparten Lektorat und Übersetzung noch hinzu, erhöht sich die Zahl auf 4.332. Die Differenz zu den Angaben des Finanzamts fällt sofort ins Auge. Zwei mögliche Gründe dafür: Entweder sind viele Einkommen für eine Aufnahme in die KSK schlechterdings zu klein oder aber das Unwissen über diese Institution ist nach wie vor zu groß. Zumindest im letzteren Fall können wir hoffentlich mit unserem Beratungsangebot Abhilfe schaffen.

Eine unkalkulierbare Größe, die wahrscheinlich einen Strich durch die oben angestellte Rechnung macht, kommt jedoch noch hinzu: die hohe Dunkelziffer von Personen, die das literarische Schreiben, Übersetzen und Lektorieren in Teilzeit betreiben, als Zubrot neben einem anderen Beruf. In welchen Statistiken tauchen all diese Literaturschaffenden auf? Vielleicht können Projekte wie „schreiben & leben“ in Zukunft dabei helfen, etwas mehr Licht in die Angelegenheit zu bringen.

Quellen:
– Künstlersozialkasse
– Mikrozensus, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, Potsdam 2021
Selbstständig: solo und prekär? Solo-Selbstständigkeit in Berlin
– Technisches Finanzamt Berlin

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